Ihr Glauben macht sie stark
Die Bibel hat man im Herzen

In dem Dorf Krasnoarmejka im Deutschen Nationalen Rayon Halbstadt gibt es keine richtige Kirche, keinen Pastor, kein Kreuz an der Wand. Und doch halten die fünf verbliebenen evangelisch–lutherischen Gläubigen regelmäßig Gottesdienst ab. Sie singen deutsche Kirchenlieder, beten das Vaterunser und das „Glaubensbekenntnis, lesen deutsche Predigttexte und das schon ihr ganzes Leben lang. Trotz des Verbots während des Kommunismus, trotz schwieriger Zeiten, in denen es nur ein Gesangsbuch gab, und trotz ausbleibender Anhänger, weil die meisten nach Deutschland ausgereist sind.

 

Ein kleines Häuschen in Krasnoarmejskoje mitten im Deutschen Nationalen Rayon. Früher befand sich hier das medizinische Zentrum, heute beherbergt es das einzige Gotteshaus im Dorf. Beim Betreten fallen sofort die fünf Pantoffel–Paare ins Auge. Ordentlich aufgereiht stehen sie links hinter dem Eingang unter einem großen Wandregal, das mit zahlreichen deutschen Gesangs– und Gebetsbüchern gefüllt ist. Einige Schritte weiter, sorgfältig durch eine weiße Gardine abgetrennt, gelangt man in die „Heilige Stätte“. Dorthin, wo der eigentliche Gottesdienst abgehalten wird. Nur noch fünf Russlanddeutsche bilden hier die Gemeinde, wenn man überhaupt von dieser sprechen kann. Denn es ist eine Gemeinde ohne Pastor. Wacker treffen sich die Gläubigen, die aus vier Frauen und einem Mann bestehen, dreimal in der Woche zum Beten und Singen, um sich gemeinsam zu ihrer evangelisch–lutherischen Konfession zu bekennen. Heute allerdings bleiben ein Paar Hausschuhe im Regal stehen, denn eine Glaubensschwester hat ihren Weg an diesem Morgen nicht in das kleine Haus gefunden. „Ein Kreuz hängt noch nicht an der Wand“, erzählt die 70–jährige Lilli Schollenberger. „Das ist beim Umzug kaputt gegangen. Denn bis vor kurzem trafen sie sich noch in einem anderen Gebäude, aber das wurde einfach zu groß. Früher kamen immerhin 40 Menschen zum Gottesdienst, und vor sechs Jahren hat auch noch jemand Gitarre zu den deutschen Liedern gespielt. Aber die meisten sind ausgereist. Auch viele aus der Familie von Lilli Schollenberg leben jetzt in Deutschland, wie ihre drei Söhne im nordrheinwestfälischen Hamm.

Der starke Glaube der fünf Dorfbewohner und ihr enormer Mut, diesen auch unter dem kommunistischen Regime auszuüben, sind beeindruckend und rührend zugleich. „Das habe ich alles von meinen Eltern“, so Lilli Schollenberger. „Auch als es im Kommunismus verboten war, haben wir unseren Glauben praktiziert. Wir haben uns dann zu Hause getroffen.“ Leicht waren diese Zeiten nicht, über die hier nicht gern gesprochen wird. Aber alle erinnern sich noch sehr genau an die Situation, als nur ein deutsches Gesangsbuch existierte. Woher sollte man die Bücher damals auch bekommen? Aber man wusste sich zu helfen: Kurzerhand schrieb man die Liedertexte per Hand ab. Heute können sich die fünf über Büchersendungen aus Deutschland freuen. „Nun wollen wir singen“, sagt David Feist (42) und schlägt zu Beginn des Gottesdienstes das Lied „Oh, in den Armen Jesu“ vor. Schnell finden Sarah Meier (66), Erna Seibel (63) und Lilli Schollenberger die entsprechende Seite in ihren Gesangsbüchern und stimmen die Melodie an. Ohne musikalische Begleitung schmettern sie das Lied aus voller Kehle und schauen dabei kaum in das Buch, denn alle sind textsicher. Auch ich als „Zeitung für Dich“–Korrespondentin falle mit in den Gesang ein. Es ist ein bewegender Moment, deutsche Lieder in einem kleinen sibirischen Dorf zu singen. Einen Pastor hat die Gemeinde in Krasnoarmejskoje schon lange nicht mehr. Diesen Part übernimmt der einzige Mann in der Runde, David Feist, der den jeweiligen Predigttext nach dem Kirchenkalender aussucht. Am 21. Sonntag nach Trinitatis zum Beispiel stand der Text aus dem Johannesevangelium, Kapitel vier, Verse 47–54 auf dem Programm: „Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten“. In dieser Geschichte heilt Jesus den todkranken Sohn eines verzweifelten Vaters und spricht zu ihm die Worte: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht.“ Der Vater aber glaubt den Worten Jesu, und dadurch wird sein Sohn geheilt. Auch Lilli Schollenberger ist eine gläubige Frau wie alle hier. „Die Bibel hat man im Herzen und im Kopf“, sagt die 70–jährige. „Die kann man nicht rausreißen.“ Alle deutschen Feste wie Taufe, Ostern, Neujahr und Beerdigungen feiern sie. „Auf Weihnachten freuen wir uns immer sehr“, erzählt Erna Seibel. „Das ist eine ganz besondere Zeit. „In der Adventszeit erstrahlt das Dorf in einem wunderschönen, festlichen Glanz. Fenster werden mit Basteleien geschmückt, Tannenbäume mit Lichtern ausgestattet und ein großer Adventskranz wird in der Schule errichtet. „In der Adventszeit macht man nicht nur eine Kerze von außen an“, erzählt Lilli Schollenberger mit einem Lächeln, „sondern man leuchtet vielmehr von innen.“ Mit einem Vaterunser und anschließendem Segen beschließen wir den Gottesdienst, die Straßenschuhe werden übergezogen, die Pantoffel landen wieder in dem Regal. Ihre Einladung zu einem erneuten Besuch fällt so herzlich aus, dass mich mein Weg wohl bald wieder nach Krasnoarmejskoje führen wird.

Источник: Stefanie Conrad; "Zeitung für Dich" Nr. 44/2002, S. 16

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